Seher  Sucher  Wächter  -  Gewandtbilder  - 
Begleitkatalog zur Ausstellung in Selm



Inhaltsverzeichnis




Sie meinten Zivilisation

Sie vermuteten Freiheit
Und sahen die Grenzen nicht

Sie dachten an Teilen
Und wollten alles für sich

Sie redeten von Toleranz
Und bekämpften das Anderssein

Sie erwarteten Verschwiegenheit
Und lebten von Verrat

Sie wünschten sich Solidarität
Und ließen andere im Stich

Sie forderten Fairness
Und ergaunerten sich Vorteile

Sie suchten Sicherheit
Und mißbrauchten das Vertrauen

Sie wollten Frieden
Und kauften Raketen

Sie bestanden auf Ehrlichkeit
Und verschwiegen die Wahrheit

Sie predigten Freundschaft
Und hatten Angst vor Nähe

Sie redeten viel
Und keiner hörte zu

Sie glaubten an Demokratie
Und waren schon Teil der Diktatur

Sie waren verbittert
Und flüchteten in die Sucht

Sie spürten das Leben
Und waren schon lange Tod

Sie meinten es gut
Und brachen zahllose Seelen

Sie lobten ihre Gerechtigkeit
Und legitimierten die Todesstrafe

Sie planten für Morgen
Und zerstörten das Heute

Sie träumten von Veränderung
Und blieben doch immer die Selben

Sie dachten, sie wären allein
Und werden doch gemeinsam
zu Grunde gehen


Evelyn Bernhagen, Berlin, 2001



Leben, Lieben und lassen

Leben, Lieben
Und Lassen
Wenn die
Kontrolle
Einsetzt

Wenn nicht
Vermißt wird
Was Mensch
Nicht kennt ...


Evelyn Bernhagen, Berlin, Dez. 1995



Kraftlos

Kraftlos
Schleppe ich mich
Durch den Tag

Kraftlos
Baue ich
Meinen Sarg

Kraftlos
Lege ich
Mich hinein

Kraftlos
Grabe ich
Mich ein

Doch
Kraftlos will ich
Nicht mehr sein


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1998



Kettenmensch

Ketten der Monotonie
Fesseln der Macht
Fügung des Schicksals
Klasse der Masse

Ducken statt stehen
Kriechen statt gehen
Schleimen statt Leben
Automat statt Mensch

Klein bleiben
Kaum wachsen
Keine Meinung
Nur Ertragen

Wenn Selbstwert
Nur über Leistung
Definiert wird . . .

Du Kettenmensch


Evelyn Bernhagen, Berlin, 2001



Mauerblümchen

Mauerblümchen
Brachten mich
Durch´s Leben

Gaben mir Kraft
Für neue Wege

Führten mich
Mit ihrem Licht
Durch diese
So dunkle Welt

Gaben mir Halt
Auf steinigen Wegen

Fingen mich auf
In stürzender Not
In endlose Schluchten
Der Depression

Und werden mir
Hoffnung geben

Auch den nächsten Tag
Im Rassismus
Zu überstehen


Evelyn Bernhagen, Berlin, 2001



Der Traum vom Glück

Ich träume
von Geborgenheit und Nähe
vom Geben und Nehmen
dem Halt bevor ich falle
und dem Gefühl dazuzugehören

Ich träumte
vom Leben
in der Gemeinschaft
von der Kraft
die Andere weitergeben
dem Gefühl im Bauch
was langsam aufsteigt
wohlig wächst
und mir Kraft
zum Leben gibt

In mir
blieb ein Loch zurück
als mir klar wurde . . .

Es war nur ein Traum


Evelyn Bernhagen, Kierspe, 1990



Erkenntnis

. . . und zur Erkenntnis
gelangt nur der,
der Mut und Neugierde
besitzt
die einen treiben
immer Neues zu sehen,
erfahren und erkunden
zu wollen

Mauern können
nicht zu hart sein,
Blockaden
nicht zu verkeilt,
Zäune
nicht zu komplex
und Seen
nicht zu tief

Die Ideen
der eigenen Spontanität
werden einen leiten
und enden nie

Diese Reise
voller Neugierde
trotz vieler Rückschläge
wird weiter gehen

Neue Anläufe
und unentwegte Versuche
führen zur Klärung,
zu Neuentdeckungen
und Erkenntnissen

Antworten stellen sich ein
und öffnen Horizonte
im eignen ICH.


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1997



Der Weg

Er führt an
hastenden Leuten vorbei
Kein Kontakt

Er schlängelt sich
um Hundedreck herum
Keine Tierwelt

Er geht Trepp auf
und Trepp ab
Keine Rast

Er verzweigt sich
in viele Richtungen
Keine Orientierung

Er führt vom Jetzt
ins Später
Keine Zeit

Er zwingt zum
Hindernislauf
Kein Entspannen

Er kreuzt
die Wege der Anderen
Kein Zusammenstoß

Er überwindet
tiefe Schluchten
Kein Absturz

Er zeigt
andere Wege auf
Eine Perspektive

Er führt
in andere Welten
die ich
noch nie gesehen habe . . .


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1996



Rasseblumentod

Sag´s durch die Blume
Auch wenn die Pollen
die Nase reizen
Die Dornen
die Finger zerstechen
Die Blätter
schon welken
Die Blüten
zerpflückt

Du
Blutüberströmt
Der Rock zerrissen
Die Schuhe zu klein
Das Hemd zerschlissen

Überreiche den Stengel
Auch jenem Bengel
Der Dich gejagt
Und Dich nie gefragt
Wer Du wirklich bist

Sei ein braver Christ
Ein Edelmensch
Laß Dich hetzen
Demütigen
Diskriminieren
Dir die Kleidung zerfetzen

Sei ihm dankbar
für diese Tortur
Und überreiche ihm
bleib dabei stur
Den blutigen Halm
auch im Feuerqualm
Dieser Aufsteigend
von Deinem Hause
Du Niedersinkend
schwer getroffen

Und danke dem Rassisten
Für Deinen so zeitigen Tod
Du hattest ja doch nicht mehr
Genug Speise und Brot


Evelyn Bernhagen, Berlin, 2000



Gehen lernen

Ein Schritt nach vorne
Noch ein Schritt nach vorn
Ein Schritt
Zwei Schritte
Alle beide nach vorne
Noch ein Schritt
Und wieder einen Schritt
Nach vorne

Sie verweilt ein bißchen
Geht dann einen Schritt
Nach vorne

Ein Schritt nach vorne
Noch ein Schritt nach vorn
Und
Sie hat gelernt
Vorwärts zu gehen


Evelyn Bernhagen, Kierspe, 1988



Relikt

Schwere Steine
Blockierte Straßen
Grenze von wo nach irgendwo

Graue Brocken
Verschließen Kontakte
Beenden Beziehungen

Vergessene Welt
Oder eigenes Paradies
Nur Fragen und keine Antworten
Nur Ferne und keine Nähe

Ein Kreischen
Ein Knall
Unbeschreibliches Krachen

Es zerbrach
Was Jahre trennte
Viele verängstigte

Sie rissen es nieder
Fast nur in Sekunden
Und hofften auf Gemeinsamkeiten

Doch es blieb
Die Trennung
Die Mißgunst
Ein flaues Gefühl
Im Magen

Es blieb eine Trennung
Zwischen Ost und West
Zwischen Gut und Böse
Zwischen Reich und Arm
Zwischen Richtig und Falsch
Zwischen Opfer und Täter
Zwischen Siegermacht und
Ohnmacht

Und daß nur wegen der Reisefreiheit
Oder war da noch was......


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1999



Einfach nur leben

Ich wurde geboren
und kam ins Heim

Ich wurde 2 Jahre alt
und die Erzieherin verließ mich

Ich wurde 3 ½
und sollte eine Ehe retten

Ich wurde 5
und verteidigte meinen Bruder

Ich wurde 7 Jahre
und wurde eingeschult

Ich wurde 8
und war der Negerkuß

Ich wurde 9, 10, 11
und war der Bimbo mit Bastrock

Ich wurde Gesamtschülerin
und war der Negersklave aus „Roots“

Ich wurde Abiturientin
und floh nach Berlin

Ich wurde Wahlberlinerin
und sollte in den Urwald zurück

Ich suchte Freunde
und wurde im Stich gelassen

Ich suchte Anerkennung
und wurde verachtet

Ich wollte mich wehren
und wurde bestraft

Ich fand Freunde
die mich verstehen können

Ich fand meine Wut
und will mich rächen . . .


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1999



Gruselige Blicke

Mienen
verschobene Visagen
verkrampftes Halten
der eigenen Taschen

Der Feind sitzt neben
vor und hinter Dir

Scheue Blicke
verstohlenes Aufsehen
ein unerlaubtes Blinzeln
kann unabsehbare Folgen haben

Der Feind hört,
sieht und riecht dich
überall

U- Bahn fahren in Feindesland
Angst vor fremden Menschen
Ekel vor Individualität

Die Furcht
vor der eigenen Kreativität
läßt uns alle erstarren . . .


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1997



Gewohnheitstier

Wir pflegen
unsere Rituale
Wir zelebrieren
unsere Kulte

Oft nur bescheiden
häufig bis zur Penetranz

Wir wiegen auf
was andere tun
Wir vergessen das
was wir verkörpern

Eine Gewohnheit
die wir selber genießen
Bei anderen als Manko
sogar als Schwäche sehen

Es hat nur Sinn
bei uns selber
Des anderen Ritual
ist wertlos
oder gar eine Last

Wir verachten
und spucken auf sie
Auf die "Spießer"
und "Anpasser"

"Normalo" will keiner sein

Doch unsere Gewohnheit
ist der Widerspruch in sich
Die Ritualisierung
des Rituallosen
Die Zelebration
der Antizelebriertheit
Die Ablehnung von allem
was regelmäßig scheint

Doch das tun wir
mit voller Entschlossenheit
und mit regelmäßigen Ritualen
so daß es
zur Gewohnheit wird ! ! !


Evelyn Bernhagen, Berlin, 1997



Don Quichotte

Kampf gegen Windmühlenflügel
Immer erneut zu erklären
Plastisch zu machen
Was ist Rassismus
Wo liegt der Ursprung

Immer erneut zu vermitteln
Wie er sich äußert
Von wem Rassismus kommt
Wer ihn heute noch praktiziert

Immer erneut zu zeigen
Daß er manifestiert ist
In Deinem und meinem Kopf
Wie er Leben zerstört

Immer erneut zu ertragen
Daß nicht verstanden wird
Ich gegen Rechtfertigung ankämpfe
Nachher in der Rolle der Täterin

Ich bin den latenten Rassisten
Mal wieder zu nahe getreten
Und liege nun krank
Vor Schmerz im Bett


Evelyn Bernhagen, Berlin, 2001



Alle Rechte bei Frau Flora E. Bernhagen,Flora-Medienwerkstatt-Berlin.info